Die Welt ist ein Gedanke Gottes – Dr. F. Hartmann:

 

Es gibt ein höheres und ein niederes Wissen. Das niedere bezieht sich auf die äußerlich wahrnehmbaren Erscheinungen in der Natur; das höhere geht aus der innerlichen Erkenntnis des einen Wesens aller Dinge hervor. Das niedere gehört dem menschlichen Gehirnverstand, das höhere der Herzenserkenntnis an. Das eine wird durch Beobachtung, das andere durch Vereinigung erlangt. [ ... ]

Form ist Beschränktheit, Wesen ist Freiheit; Form ist Erscheinung, Wesen ist Wirklichkeit, Wahrheit, Sein. Um das Bewusstsein der Allgegenwart des göttlichen Wesens in mir zu erlangen, muss ich über das Selbstbewusstsein, das meiner beschränkten Erscheinung angehört, erhaben sein. Soll ich mich als Ganzes im Ganzen erkennen, so muss ich im Ganzen leben und vom Geist des Ganzen erfüllt sein. Wo wäre der Künstler, der jemals etwas Großes geschaffen hätte, ohne vom Geist der Kunst erfüllt zu sein? Wer Großes erlangen will, muss groß denken und fühlen lernen, wer das höchste Ideal in sich verwirklicht sehen will, dessen Seele muss groß genug sein, die ganze Menschheit und Gott darin zu umfassen.

Die materielle Welt ist das verkehrte Spiegelbild der geistigen Welt und deshalb an Sinnbildern reich. Nehmen wir als Beispiel das Wasser. Als Element ist es nur ein einziges, seine Zusammensetzung ist überall dieselbe. Es ist durch die ganze Natur verbreitet. In leichtes Gewand gekleidet, durchzieht es die luftigen Höhen, zu einzelnen Tropfen verdichtet, fällt es zur Erde hernieder. Es nimmt die Gestalt des Gefäßes an, in die es gegossen wird, und es erscheint in der Farbe des Glases, das es enthält. Da kommt der Winter und mit ihm der Frost. Das, was vorher als leichter Nebel die Berggipfel umschwebte, ist nun zu einem festen, starren Körper geworden. Der Wasserfall hört auf zu rauschen, und Eiszapfen hängen an den Mühlrädern in wunderlichen Gestalten. Das Bewegliche ist durch die Kälte unbeweglich geworden. Da ist kein Eisgebilde dem anderen vollkommen gleich, es hat jedes seine individuelle Form. Dennoch sagt uns unsere Erfahrung, dass sie alle, die großen sowohl als auch die kleinen, in ihrem Wesen nicht voneinander verschieden sind.

So ist auch die Menschheit, nämlich das, was den Menschen zum menschlichen Wesen macht, in allen Menschen dasselbe, und ein Mensch ist nur insofern ein wirklicher Mensch, als die Menschheit in ihm einen individuellen Ausdruck gefunden hat. Je mehr der Menschheit Größe in seinem Charakter ausgeprägt ist, umso mehr ist er in Wahrheit ein Mensch und fähig, die Freuden und Leiden der ganzen Menschheit in sich zu empfinden. In der Vorahnung dieses Zustandes sagt Goethe im Faust:

 

Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,

Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen,

Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,

Will ich in meinem innern Selbst genießen.

Mit meinem Geist das Höchst´ und Tiefste greifen,

Ihr Wohl und Weh auf meinem Busen häufen,

Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,

Und wie sie selbst am End auch ich zerscheitern.“

 

Aber in der Menschheit als Ganzes und in jedem einzelnen Menschen ist noch etwas anderes enthalten, etwas, was am Ende nicht scheitern kann, weil es für dasselbe kein Ende gibt; denn es ist unerschaffen, selbstexistierend und ewig, und dies ist das wahre Wesen der Gottheit, das göttliche Selbstbewusstsein, das nicht vom persönlichen Selbstbewusstsein erzeugt oder eine Form des letzteren, sondern von diesem verschieden ist, aber in ihm offenbar werden und an dessen Stelle treten kann. Die ewige Freiheit ist überall, aber nicht jede Form ist sich ihres göttlichen Daseins bewusst.

Deshalb braucht Gott den Menschen, damit er in ihm sich seiner eigenen Göttlichkeit bewusst werde.“ (Meister Eckhart)